15. Kapitel

Meine Füße konnten mich gar nicht schnell genug tragen. Ich flitzte durch die Straßen und stolperte über meine blöden Keilabsätze. Sollte ich demnächst irgendwie ein bisschen Geld in die Finger bekommen, würde ich mir als Allererstes ein paar ordentliche Schuhe kaufen. Bitte, mach, dass er zu Hause ist. Bitte. Ich wollte unbedingt mit ihm reden und mich bei ihm entschuldigen.

Justin öffnete die Tür.

»Hey«, sagte er, und in seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Verwirrung, Furcht und Freude. Seine Haare waren nass, er kam wohl eben aus der Dusche. Vermutlich hatte er gerade in den Spiegel gestarrt und an irgendwas herumgedrückt, zumindest meinen eigenen Teenie-Erfahrungen nach zu urteilen.

Ich blieb wie angewurzelt stehen und war plötzlich ganz schüchtern und befangen. »Hi«, murmelte ich und starrte angestrengt auf meine Schuhspitzen.

Er guckte mich mit Dackelblick an. »Tut mir Leid wegen neulich. John ist so ein Blödmann. Er tut immer, als wäre ich ein kleines Kind.«

»Dafür kann er nichts«, erwiderte ich. »Ähm, ist er vielleicht gerade da? Ich würde gerne mal kurz mit ihm reden, wenn‘s geht.«

Justin guckte etwas verwirrt, als er das hörte. »Warum?«

Ich musste mir was aus den Fingern saugen.

»Äh, meine Mutter hat mich gebeten, ihm etwas zu bringen. Langweiliger Kram. Typisch Erwachsene - irgendeine Quittung oder so was.«

»Ach so.«

Er wirkte nicht ganz überzeugt, aber mehr konnte ich im Augenblick nicht tun.

»Äh ... er guckt gerade Fußball. Aber willst du vielleicht ... einen kleinen Spaziergang machen oder so? Meine Mum leiht mir das Auto zwar nicht, aber die sind nicht da. Wir könnten also ...«

»Warum leiht sie dir denn nicht das Auto?«

»Tut nichts zur Sache. Eigentlich bin ich nämlich ein sehr guter Fahrer.«

»Mit Sicherheit«, erwiderte ich lächelnd. »Später vielleicht?«

Er starrte mich noch mal durchdringend an, dann riss er sich zusammen. »Möchtest du reinkommen?«

»Danke«, sagte ich nervös. Vorsichtig trat ich über die Schwelle.

»John!«, brüllte Justin. Aber der war schon längst da und stand im Halbdunkel des Flurs.

»Was willst du?«, fragte er unwirsch. »Ahm, meine Mum hat gesagt, wir müssen ... uns unterhalten«, stammelte ich.

Er wirkte wie vor den Kopf geschlagen. Wie kam es nur, dass ein Teenager diesen offensichtlichen Vorwand durchschaute, während ein Erwachsener blind darauf hereinfiel?

Wir saßen in der Küche und schauten auf das bunte Herbstlaub, das draußen durch den Garten wehte. Justin drückte sich in der Nähe herum und versuchte uns zu belauschen, aber Clell schnauzte ihn an, er solle sich verziehen, und kurz darauf saß er wieder im Wohnzimmer und brüllte unbekümmert die Fußballspieler an.

»Es tut mir aufrichtig Leid«, erklärte ich.

Clelland löffelte gerade Kaffeepulver in zwei Tassen. »Kein Filterkaffee, leider«, murmelte er mürrisch. »Meine Eltern mögen den nicht. Milch und zwei Stück Zucker, richtig?«

»Nein«, sagte ich. »Nur Wasser, bitte.«

»Ach, komm schon. Sei kein Kaffee-Snob!«

»Okay. Mit Milch und zwei Zucker. Und übrigens, falls du eben nicht zugehört hast: Ich sagte, es tut mir Leid.«

Der Wasserkessel schaltete sich ab, und er goss Wasser in die beiden beigefarbenen Becher mit dem Ährenmotiv, die genauso alt waren wie die Ehe seiner Eltern. Er machte alles ganz bedächtig, füllte das Wasser in die Tassen, fügte Milch und Zucker hinzu und stellte den Kaffee auf den Tisch. Dann atmete er tief aus und fuhr sich geistesabwesend mit der Hand durch die Haare. Ich fand das alles unheimlich irritierend. Und gleichzeitig irgendwie sexy.

»Ich hab‘s gehört«, erwiderte er.

»Gut«, sagte ich. »Vielleicht könntest du dann aufhören, so zu tun, als wärst du Mickey Rourke in einem seiner schrecklichen Filme.«

»Na ja, wenn ich Mickey Rourke bin, dann bist du ...« Er dachte einen Augenblick nach. »Irgendeine inzestuöse Kinderschänderin, die mir gerade nicht einfällt.«

Mit glühend heißen Wangen sprang ich auf. »Ich bin hergekommen, weil ich mit dir reden wollte«, sagte ich. »Oder ist das reine Zeitverschwendung?«

Er stand ebenfalls auf. »Okay. Nein. Setz dich wieder.«

Ich setzte mich. Dann spielten wir ziemlich lange an unseren Kaffeetassen herum. Ich fing an, im Zucker herumzurühren, und zog Muster in die glatte Oberfläche wie in einem japanischen Zen-Garten.

»Du und ich«, setzte ich an, schluckte nervös und bemühte mich, ihm nicht in die Augen zu sehen, um mich nicht wieder total aus dem Konzept bringen zu lassen. »Das ist sehr lange her.«

»Ich weiß«, erwiderte er.

»Ich weiß nicht, warum ich nie darüber hinweggekommen bin.«

»Ich wusste nicht, dass du nie darüber hinweggekommen bist.«

»Das ist mir klar.«

»Bis ich dich wiedergesehen habe.«

Zuerst dachte ich, er meinte damit die Hochzeit. Doch dann fiel mir wieder ein, dass er mich bei der Hochzeit nicht gesehen haben konnte, weil die noch gar nicht stattgefunden hatte.

»Weil wir uns nie wiedergesehen haben!«, rief ich. Das war mir gerade aufgegangen.

»Ahm ...«

»Als Erwachsene, meine ich. Ich gehe in meinen Gedanken immer davon aus, dass wir uns als Erwachsene noch mal wieder begegnet sind und du gewisse Dinge über mich weißt, und deshalb auch weißt... und deshalb auch ganz klar sehen kannst, was für ein Mensch ich wirklich bin. Aber das stimmt gar nicht.«

»Jetzt bin ich verwirrt.«

»Wir begegnen uns bei der Hochzeit. Als Erwachsene.«

»Okay ...«

»Du denkst wahrscheinlich, ich bin ein kleines Mädchen, das nie erwachsen geworden ist und auf der Suche nach dir durch die Straßen irrt.«

Er wirkte peinlich berührt.

»Du hältst mich für den personifizierten Entwicklungsstillstand.«

»Der Gedanke ist mir durchaus schon mal durch den Kopf gegangen.«

»Aber das bin ich nicht, weißt du! Ich bin eine richtige erwachsene Frau! Ich habe eine eigene Wohnung und ein eigenes Leben - ein gutes Leben, aber jetzt, weißt du, jetzt, du hast ja keine Ahnung, wie das für mich ist«, sprudelte es aus mir heraus. »Es ist, als stünde ich jeden Tag auf der Bühne.

Jeder neue Tag ist eine neue Prüfung, und ich weiß nie, ob ich sie bestehen werde oder nicht. Ich spiele die ganze Zeit eine Rolle. Kaum einer hat auch nur die geringste Ahnung, wer ich wirklich bin.« Plötzlich war mir, als müsste ich gleich heulen. »Ich bin die Einzige in meiner Klasse, die sich noch an Britpop erinnert. Ich bin die Einzige, die je mit Francs oder Lire bezahlt hat oder weiß, wie das Leben ohne Fernbedienung ist oder ohne Handys oder E-Mail oder Sat-Navi.«

»Oder was?«

»Ich weiß es nicht! Ich weiß ja nicht mal, was das ist, aber die reden dauernd darüber!«

Clelland riss ein Stückchen Papier von der Küchenrolle und reichte es mir. Ich bedankte mich und erzählte weiter.

»Ich bin die Einzige, die weiß, wie man einen Stecker austauscht oder eine Tischreservierung im Restaurant macht. Ich bin die Einzige, die ... ich bin die Einzige, die schon mal ein gebrochenes Herz hatte. Weißt du ...« Inzwischen schluchzte ich schon, so richtig schmerzhafte Schluchzer, die von ganz tief drinnen kommen. »Unsere Geschichtslehrerin hat über den 11. September geredet. Und sie hat gefragt, ob einer von uns schon mal im World Trade Center gewesen ist. Und keiner war da gewesen, weil sie alle erst 14 waren und sich nicht mal mehr richtig daran erinnern können. Bloß ich bin da gewesen. Ich hatte ein Bild von mir auf einem der Türme, und jetzt hat es das nie gegeben. Und ich konnte nicht mal erzählen, wie sehr ich es gemocht habe und wie wir alle geweint haben. Und ich bin so furchtbar einsam.«

Clelland rieb mir den Rücken. »Pst«, flüsterte er.

»Ich bin kein kleines Mädchen«, schluchzte ich. »Bin ich nicht.«

»Nein«, sagte er.

»Ich bin gefangen zwischen zwei Welten. Und ich habe ein bisschen Trost gesucht. Und es tut mir Leid.«

»Ich weiß.« Sein Mund war sehr nahe an meinem Ohr. »Es tut mir Leid, was ich gesagt habe.«

Ich machte ein halb ersticktes Geräusch.

»Du bist nicht die Einzige, die ziemlich lange gebraucht hat, um darüber hinwegzukommen, okay?«

Plötzlich gab es eine spürbare Veränderung im Raum. Justin stand in der Tür, in Strümpfen, mit einer Flasche Cola in der Hand. Verblüfft sah er uns an.

»Was ist denn hier los?«

Clelland zeigte keinerlei Reaktion. Er blickte mich bloß weiter unverwandt an.

»Bald wirst du also wieder erwachsen, stimmt‘s?«, sagte er mit sanfter Stimme. »Ich bin mir sicher, alles wird gut ausgehen. Jetzt, wo wir das geklärt haben.«

Ich schluckte schwer. »Ja«, wisperte ich. »Ja.«

Er guckte auf seine Uhr. »Okay. Ich komme zu spät zu meiner Verabredung mit Madeleine. Ich ...« Es schien, als wolle er noch etwas darüber sagen, doch das tat er nicht. »Okay, tja, ähm, soll ich Tashy und Olly sagen, dass du dich entschieden hast?«

»Zurückzugehen? Ich habe wohl keine andere Wahl«, brummte ich. »Ich ertrage das nicht.«

Er stand auf und warf Justin und mir einen vielsagenden Blick zu. »Benehmt euch, ihr beiden.« Dann ging er.

Justin wirkte total baff. »Macht er dir immer noch das Leben schwer?«, fragte er.

Ich nickte. »Aber er ist schon ganz okay.«

»Er kann ein richtiger Saftsack sein, mein lieber Bruder.« Er bot mir einen Schluck von seiner Cola an. Ich trank in großen, tiefen Schlucken. »Er will mich zwingen, am Samstag zu dieser blöden Hochzeit mitzugehen. Dabei kenne ich die nicht mal.«

»Ich gehe auch da hin«, piepste ich.

»Echt?« Sein Gesicht hellte sich augenblicklich auf, dann wurde er leicht rot. Justin hatte die Kunst des Gleichgültigtuns noch nicht ganz gemeistert.

In diesem Augenblick wurde mir etwas klar, etwas, das ich schon die ganze Zeit über gewusst haben musste. Ich würde weggehen, und ich wollte ihm etwas schenken. Etwas, das ihm in Erinnerung bleiben würde. Etwas, das ihm sein ganzes Leben lang von Nutzen sein würde. Etwas, das ich seinem Bruder nie gegeben hatte.

»Komm mal her«, sagte ich.

Er fühlte sich so wunderbar an, so sehnig und stark. Sein Körper war beinahe völlig unbehaart, und sein Erstaunen zum Schreien komisch. Als er merkte, dass ich seine tastenden Annäherungsversuche an meine Brüste nicht nur duldete, sondern genoss, riss er die Augen weit auf, und sie wurden noch größer, als ich ihm behutsam zeigte, wie er meine Brüste am besten liebkosen und streicheln sollte und wie es mir gefiel.

»O Gott«, seufzte er, und im gleichen Augenblick spürte ich ihn an meinem Bein. Ich zog ihm das T-Shirt über den Kopf und wollte gerade meinen BH aufhaken, als mir einfiel, dass er hier eine wertvolle Lektion für die Zukunft lernen konnte. Also nahm ich seine Hände und zeigte ihm, wie man den Verschluss aufmachte. Er hätte uns beide in diesem Augenblick bedenkenlos auf den Linoleumboden geknallt blind vor Begehren gab es vermutlich wenig, was er in diesem Augenblick nicht getan hätte -, doch ich nahm ihn an die Hand und führte ihn nach oben in sein Schlafzimmer, das, mal abgesehen davon, dass es dort kuschelig und warm war, außerdem den Vorteil hatte, dass uns ein paar Augenblicke Zeit blieben, sollte unerwartet jemand nach Hause kommen.

Als Justin, der wunderbar süß nach Schweiß duftete, seine weichen Locken an meinem Hals vergrub und ich seine ungläubigen Hände überall an meinem Körper spürte, konnte ich nicht aufhören, an Clell und mich zu denken, hier im gleichen Zimmer. Die gleichen tastenden Hände, aber ich war ängstlich gewesen und verspannt und hatte mich nicht fallen gelassen, und darum war es für uns beide irgendwie peinlich und frustrierend und ziemlich unerfreulich gewesen. Ich wollte nicht darüber nachdenken, und auf gar keinen Fall wollte ich darüber nachdenken, wie es heute mit ihm wäre. Ich hatte Wichtigeres zu tun.

»Was du suchst«, flüsterte ich ihm zärtlich ins Ohr, »ist hier. Gib mir deine Hand.« Und damit zog ich ihn zwischen meine Beine.

Ich legte mich aufs Bett und schwelgte im köstlichen Gefühl meines jungen Körpers. Ich hatte keinerlei Bedürfnis, mich vor seinen Blicken zu verstecken, mit denen er mich aufsaugte wie ein Verdurstender in der Wüste. Ich wusste, was er da gerade machte. Er wollte sich meinen Anblick unauslöschlich ins Gedächtnis einprägen, nur für den Fall, dass er nie wieder eine nackte Frau zu sehen bekam.

»Gefällt es dir?«, fragte ich neckisch.

»Du ... du bist das Schönste, was ich je gesehen habe«, stammelte er.

Ich war noch nie das Schönste gewesen, was irgendwer gesehen hatte. Aber ich wusste, er würde mich nie vergessen.

»Komm her«, flüsterte ich. »Hast du schon mal ein Kondom übergezogen ...?«

Nicht eine Sekunde lang hatte ich gedacht, ich könnte es tatsächlich genießen. Und ich hatte auch nicht erwartet, dass es wehtun würde. Aber beides war der Fall. Ich war so eng und Justin so unglaublich hart dass es eine Weile dauerte, bis es richtig klappte. Aber dann passten wir so unglaublich perfekt zusammen wie füreinander gemacht: die schiere freudige Erregung der Bewegung und seine starken jungen Muskeln unter meinen Händen, und dass er einfach nicht anders konnte, als vor Erstaunen in meine Haare zu murmeln. Es war alles so anders, so alt und neu zugleich, und als er kam, so hart und schnell, da hob ich mit ihm ab und spürte, wie ich ihm in die Schulter biss und ihn hineinzog und, die Augen fest geschlossen, aufkreischte, während er einen tiefen kehligen Schrei irgendwo zwischen Schluchzen und Brüllen losließ.

Er konnte einfach nicht aufhören, mich anzustarren, als sei ich ein Fantasiegebilde aus einem seiner Träume.

Ich warf einen prüfenden Blick auf das Laken. »Guck mal«, murmelte ich verblüfft. »Blut.«

Seine Augen weiteten sich. »War das dein erstes Mal?«

»Ahm, ja, sieht ganz so aus«, erwiderte ich. »Nicht schlecht, was? Kein Wunder, dass die uns in der Schule immer eintrichtern, es nicht zu tun.«

Er beugte sich zu mir rüber und hielt mich fest in den Armen. »Für mich war es auch das erste Mal«, wisperte er vertraulich.

»Ehrlich?«, fragte ich. Ich kuschelte mich an ihn und grinste übers ganze Gesicht wie ein Honigkuchenpferd. So ein Grinsen, das man nur nach gutem Sex bekommt. Ich küsste ihn auf die Brust.

»Das war was ganz Besonderes«, murmelte er.

»Für mich auch«, sagte ich, richtete mich halb auf, stützte mich auf einen Ellbogen und zeichnete mit den Fingerspitzen seine wunderbare jugendliche Brust nach.

Er grinste. »Können wir das noch mal machen?« Noch während er das sagte, spürte ich, wie er sich unter den Laken erneut aufrichtete.

»Nein«, sagte ich bedauernd. »Ich muss nach Hause.«

»Oh ...« Dann erinnerte er sich an seine gute Kinderstube. »Okay.« Und damit hüpfte er aus dem Bett, während ich mich bemühte, nicht zu lachen. Sehr wichtig, dass man nicht lacht, wenn der Junge zum ersten Mal in seinem Leben versucht, seinen Penis herauszuziehen.

An der Tür klammerte er sich an mich wie ein Ertrinkender.

»Es kommt mir vor, als sei alles anders.«

»Ist es auch«, sagte ich. »Du hast alles schön geküsst.«

Und damit spazierte ich nach Hause, leicht wie eine Feder, und spürte die ganze Straße hinunter seinen Blick auf meinem Rücken.

Ich musste mir auf die Zunge beißen, als ich mit Tashy telefonierte.

»Mein Dad kommt zu uns zurück«, sagte ich leise.

»Ach, Gott sei Dank. Da sind wir ... bin ich aber froh.«

»Wer hat dich denn abgeholt? Stanzi wusste es nicht.«

Am anderen Ende der Leitung entstand eine längere Pause.

»Tash?«

»Ahm, Max. Er kam zufällig vorbei. Ja. Eindeutig Max.«

Ich blickte mich um. Ob das heute mein letzter Schultag war? Es war Freitag, der Tag vor der Hochzeit. Ich ging rein. Justin und Ethan warteten am Tor auf mich und Stanzi. Stanzi ging hoch erhobenen Hauptes hinein, mit tränenüberströmtem Gesicht und wild entschlossenem Blick a la »I Will Survive« in den Augen. Kendall war nirgends zu sehen. Ethan und Justin hatten beide ein ziemlich breites Grinsen im Gesicht, und den Grund dafür konnte ich mir sofort denken.

»Erzähl es bloß nicht in der ganzen Schule rum«, ermahnte ich ihn streng.

»Was? Dass du ein ganz heißer Feger bist?«, fragte Ethan.

»Schnauze!«, blaffte ich ihn an. Aber ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen.

»Ist doch ganz egal.« Justin streckte die Arme aus und kitzelte mich ein bisschen. »Weil du mir gehörst. Mir ganz allein.«

Ich kreischte auf, als er sich auf mich stürzte, und schleuderte meine Schultasche nach ihm, die ihn im Magen traf. Ich konnte nicht aufhören zu lachen und war schon ganz außer Atem, als ich mich aufrichtete und auf einmal Fallon Auge in Auge gegenüberstand. Sie rümpfte die Nase.

»Na, amüsiert ihr euch?«, zischelte sie.

»Ach Gott, Fallon«, rief ich. »Ehrlich. Aber wenn du mich so fragst, ja. Ich amüsiere mich. Und das solltest du auch. Es schert sich nämlich keiner einen feuchten Kehricht darum, was du denkst, also solltest du lieber lernen, einfach ein bisschen Spaß zu haben. Ich weiß, dass du denkst, du seist schon fast eine erwachsene Frau, aber im Grunde genommen bist du noch ein Kind. Und hin und wieder solltest du dich auch mal wie eins benehmen dürfen.«

»Ganz genau!«, brüllte Justin, kindischer denn je, jetzt, wo ich einen Mann aus ihm gemacht hatte. »Du bist!« Und er sprang auf und tippte ihr an die Schulter.

Dann rannten er, Ethan und Stanzi schleunigst davon. Und eine Sekunde später, als ich kapiert hatte, was sie machten, spurtete ich hinterher, als ginge es um mein Leben. Und weil alle sie wie gebannt anstarrten, merkte Fallon schnell, dass ihr gar keine andere Wahl blieb, als hinterherzurennen. Also lief sie - einmalig elegant in derart hohen Absätzen - los, stürzte auf uns zu und schlug Ethan blitzschnell ab, der sich einen der schnuckeligen jüngeren Jungs herauspickte, und dann war auf einmal die Hölle los. Das Laub stob in der Herbstsonne in alle Richtungen, und der ganze Schulhof war ein einziges Gewimmel rennender, brüllender Kinder. Die Jüngeren waren total aus dem Häuschen, weil die so genannten »Großen« ein derart albernes Spiel spielten, und flitzten pausenlos hin und her. Ich war schließlich so außer Atem und beinahe hysterisch vor Aufregung, dass ich einfach nicht aufhören konnte zu lachen, selbst als Justin mich hinter einem Baum in einen Laubhaufen zog.

»O Gott«, stöhnte ich, immer noch kichernd, während ich mir das Tohuwabohu um uns herum anhörte. »Ich will nicht weg.«

»Weg, wohin denn?«, fragte Justin, richtete sich halb auf und kitzelte mich mit einem Blatt an der Nase.

Ich kam langsam wieder zu Atem. »Nirgendwohin«, antwortete ich mit einem Blick in sein wunderhübsches, offenes Gesicht. Ich fühlte mich hundsmiserabel. »Nirgendwohin. Ich meine, weg aus der Schule.«

»Klar willst du weg«, sagte er und küsste mich auf den Bauch. »Da gibt‘s doch massenweise tolle Sachen, die nur auf uns warten.«

»Pff«, machte ich.

»Ich liebe dich«, wisperte er.

»Was hast du gesagt?« Ich setzte mich kerzengerade auf.

»Nichts! Gar nichts! Ich hab‘s nicht so gemeint! Ich habe das bloß ... ich habe das noch nie gesagt. Ich wollte nur mal wissen, wie das so ist.«

»Sind aber diese Woche eine ganze Menge Premieren für dich, was?«, fragte ich.

»Mhm.«

»Versuch einfach, es in Zukunft nicht mehr zu sagen, wenn du es nicht ernst meinst«, erklärte ich.

»Mhm«, nuschelte er.

»Gut gemacht«, lobte Miss Syzlack mit einem Blick auf meine Noten.

Ich war nach der Beratungsstunde noch ein bisschen da geblieben. Ich wusste selbst nicht genau, warum.

»Du hast den Stoff in Kunst wesentlich schneller nachgeholt, als ich gedacht hätte.«

»Wenn man will, geht das, wissen Sie«, erwiderte ich. »Manchmal sollten Sie Ihre Schüler vielleicht nicht bloß zu guten Noten drängen.«

»Willst du mir etwa erklären, wie ich meinen Job zu machen habe, Flora Jane?«

»Nein, Miss«, entgegnete ich. »Als Sie als Lehrerin angefangen haben, haben Sie da gedacht, Sie würden Ihren Job irgendwann mal hassen?«

Sie lächelte, und ich musste an die vielen Tränen und die Probleme mit der Disziplin denken.

»Ich verrate dir ein kleines Geheimnis«, sagte sie. »Als ich als Lehrerin angefangen habe, da habe ich meinen Job gehasst.«

»Ich weiß«, erwiderte ich.

»Weißt du nicht«, widersprach sie. »Es war furchtbar. Ich habe immer im Klassenzimmer geheult.«

»Wurden Sie manchmal in den Wandschrank gesperrt?«

»Ja!«, gab sie zu. »Es war entsetzlich. Jeden Tag hätte ich am liebsten alles hingeschmissen. Mein Arzt wollte mir schon was verschreiben.«

»Sie sind inzwischen viel besser geworden«, sagte ich. »Was ist passiert?«

»Tja, mir ist klar geworden, dass wir nur einmal leben. Und dass ich mir das selbst ausgesucht habe. Und dass es etwas Gutes ist, dass es sich lohnt, also sollte ich wohl das Beste daraus machen. Und ich habe gemerkt, als ich mich erst einmal zu dieser Erkenntnis durchgerungen hatte, dass ich langsam besser wurde, und es fing sogar an, mir Spaß zu machen. Ich weiß, was du jetzt denkst, Miss Scurrison, aber es gibt wesentlich schlimmere Jobs, die man haben kann. Zum Beispiel den ganzen Tag in einem Büro rumsitzen. Das würde ich nicht aushalten.«

»Haben Sie denn nie ... Sie wissen schon, geheiratet? Haben Sie eine eigene Familie?«

Sie lachte. »Weißt du was, ich dachte, du seist ein alter Kopf auf jungen Schultern, Flora, aber ich hätte zumindest gedacht, du wärst auf dem Laufenden, was den Schulklatsch angeht. Ich lebe seit zehn Jahren mit Miss Leonard zusammen.«

»Der Sportlehrerin?«

»Und jetzt ab mit dir, kleines Gör.« Und sie lächelte mich herzlich an.

»Hat Tashy angerufen?«, fragte ich zum 19. Mal.

»Nein«, sagte meine Mutter und guckte zu mir rüber. Mein Dad half ihr beim Kochen. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Es war mal wieder ein Nachmittag mit endlosem Geschrei, vielen Tränen und Türenknallen seitens meiner Mutter gewesen, während ich mich oben in meinem Zimmer versteckt und die Augen fest zugemacht hatte.

Doch dann war es auf einmal, als rissen die Wolken auf, und die Welt beruhigte sich wieder. Sie gaben sich wirklich, wirklich Mühe miteinander zu reden, und er ging ihr tatsächlich ein bisschen zur Hand. Ich drückte die Daumen, dass meine Mutter möglicherweise für den Rest ihres Lebens einen willigen Sklaven haben könnte.

»Wehe, du hast deine Vertrauenslehrerin geärgert«, bemerkte mein Dad.

»Was willst du machen, mich anschwärzen?«, fragte ich. »Ich bin ihre Brautjungfer, Dad, okay? Nur zur Erinnerung.«

Stanzi beäugte das riesige Magnum-Eis, das ich für sie gekauft hatte, mit unverhohlenem Argwohn, während wir vor dem Haus auf der Mauer saßen.

»Du willst mich mästen, damit ich werde so fett, dass kein Mann mich jemals wird wieder lieben, und ich muss nie mehr traurig sein, ja?«

»Nein«, sagte ich. »Kann ich meiner Freundin denn nicht was Nettes tun?«

»Deine beste Freundin, die du lässt immer zurück.«

»Meine beste Freundin«, sagte ich und schickte Tashy eine stumme Entschuldigung, von der ich übrigens seit unserem Telefongespräch vor ein paar Tagen keinen Pieps mehr gehört hatte. Ich hatte versucht, sie anzurufen, aber entweder war sie nicht im Büro oder sie ging nicht ans Telefon. Zumindest nicht, wenn ich anrief. Vielleicht wollte sie ihre Ruhe haben. Oder sie schob einfach Panik. Aber ich hatte eigentlich gedacht, sie würde vor der Hochzeit noch mal mit mir reden wollen. Vielleicht war sie einfach stinkwütend, dass ich sie nun doch zwang, das alles durchzuziehen, weil ich wieder nach Hause wollte.

»Du bist die beste Freundin, die man sich wünschen kann«, sagte ich. »Und es tut mir so Leid, dass ich dich sitzen gelassen habe.«

Stanzi seufzte. »Das Leben ist hart.«

»Ja, das ist es.«

»Ich hasse ihn.«

»Andere Mütter haben auch schöne Söhne.«

»Stimmt, da hast du Recht. Ich werde sie alle hassen.«

»Wirst du nicht«, widersprach ich. »Wart‘s ab.«

»Wir werden zusammen kennen lernen nette Jungs, ja?«

»Mhm«, murmelte ich. »Komm her.« Und ich knuddelte sie ganz fest, nur für den Fall, dass ich sie nie wiedersehen würde.

»Freunde für immer?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ich. »Klar.«

Wir aßen das Eis zusammen. Dann ging ich nach Hause und heulte zwei Stunden lang.